22. Juni

22. Juni 1941 – 22. Juni 2021

Gedanken und Bilder zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion

 

Es sollte ein heißer, sonniger Junitag werden. Die Moskauer fuhren gewöhnlich an Sonntagen auf die Datscha. Plötzlich blieben die Menschen erstarrt stehen, blickten entgeistert und lauschten der sonoren Stimme von Juri Lewitan: „Achtung, hier spricht Moskau! Bürger und Bürgerinnen der Sowjetunion. Ohne jede Kriegserklärung attackierten die deutschen Streitkräfte heute Morgen, vier Uhr, die Grenzen der Sowjetunion … Unsere Sache ist die Richtige. Der Feind wird zerschlagen! Der Sieg wird unser sein!“

Der Bildreporter Jewgeni Chaldej hielt diesen Moment vor dem Gebäude der Nachrichtenagentur TASS fest.

Foto: Jewgeni Chaldej, 22.06.1941, Moskau

Aus den Straßenlautsprechern Moskaus und denen im ganzen Land erklang diese Nachricht immer wieder. Die deutsche Wehrmacht hatte in den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 einen existierenden Beistandspakt gebrochen, völkerrechtswidrig das Land überfallen und einen barbarischen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung begonnen. Der Frontkorrespondent war von Anfang an dabei und folgte an der Seite der Roten Armee dem Weg von Moskau bis Berlin.

 

Jewgenij Chaldej durfte ich später kennenlernen, ein bescheidener und gütiger Mensch. In seiner kleinen Moskauer Wohnung zeigte er mir Bild für Bild: Haus und Hof der Bauern niedergebrannt, Städte dem Erdboden gleichgemacht, Zivilisten und Gefangene ermordet, Juden in die Gaskammern geschickt, Kunstschätze aus den Museen geraubt. Er sah mit der Kamera Not und Elend, die über Nacht hereingebrochen waren. Chaldej hielt die ganze Grausamkeit des Krieges für die Nachwelt fest. Die Kamera war seine Waffe im Krieg gegen die Aggressoren. Mit seinem Propusk (einem besonderen Ausweis) kam er weit an die Front, schoss Bilder von den Straßenkämpfen und hielt auch die Stille nach dem Sturm auf Zelluloid fest.

Foto: Jewgeni Dolmatowski

Am Ende der 1418 Tage des Krieges lebten mehr als 27 Millionen Bürger der Sowjetunion nicht mehr, die Mehrzahl davon Zivilisten – Russen, Ukrainer, Belorussen und andere. Auch Shenja hatte seine Familie verloren.

Der erste Mann bei TASS-Fotochronika machte schließlich auch das weltbekannte Bild von der Roten Fahne auf dem Reichstag, Symbol für den endgültigen Sieg über das faschistische Deutschland.

Foto: Jewgeni Chaldej, 1945, Berlin

Chaldej hielt auch jenen Moment im Bild fest, als der damals sehr bekannte Dichter Jewgeni Dolmatowski vor dem Brandenburger Tor Gedichte vom Sieg über den Faschismus vortrug, von der Stille nach dem Sturm sprach und das Lied vom morgigen Tag in Frieden besang. Der Dichter schenkte mir Jahre später diesen Abzug mit der Widmung, als ich ihn für die Zeitschrift Freie Welt nach Berlin eingeladen hatte.

Gerade heute ist es dringend, an diesen historischen Tag zu erinnern. Und nicht zu vergessen, welches Leid Deutsche über die Völker der Sowjetunion brachten.

Günther Wolfram

 

Gespräch anlässlich des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Paul Werner Wagner im Gespräch mit Dr. Antje Vollmer | Link zum Video (1:06:05)

 

Interview von Paul Werner Wagner im Jahr 2005 mit Prof. Wolfgang Leonhard zu Juri Oserows Filmwerk „Befreiung“ und über seine Erinnerungen an den 22. Juni 1941 in Moskau |  Link zum Video (1:21:55)

 

Ein Beitrag zum Thema ist auch ein Gespräch mit dem erst kürzlich verstorbenen langjährigen Mitglied unserer Friedrich-Wolf-Gesellschaft, Prof. Dr. Moritz Mebel, der den Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion ebenfalls in Moskau erlebte.

Hier ist der Link zum Trailer zu diesem dreiteiligen Film: Moritz Mebel über den Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 | 3:58 min

Der 22. Juni 1941 wird für immer als Beginn eines Krieges im kollektiven Gedächtnis bleiben, der als 2. Weltkrieg alle Dimensionen sprengte, die von Menschen gemachte Täter- und Opfergeschichten hervorbringen. Es sind diese ganz individuellen Geschichten, die immer wieder erzählt werden müssen. Günther Wolfram, langjähriger Leiter des Moskauer Büros der Zeitschrift "FREIE WELT" in Moskau, erinnert sich an viele Schicksale von Betroffenen, an Paraden am Tag des Sieges auf dem Roten Platz und an die Freundschaft zu dem durch seine Bilder weltbekannten Kriegsfotografen Jewgeni Chaldej, der vom ersten bis zum letzten Tag sowohl den Überfall auf die Sowjetunion als auch die Momente des Sieges über den Faschismus mit seiner Kamera festhielt.    

Seit der Gründung der Friedrich-Wolf-Gesellschaft begleitet Günther Wolfram mit seiner Kamera unsere vielfältige Arbeit und hat so auch zahlreiche Zeitzeugen, Schriftsteller, Schauspieler und Politiker für unser Bildgedächtnis festgehalten. Über viele Jahre konnte er als Vorstandsmitglied mit Anregungen, Ideen und umfangreichen Recherchen seine Spuren hinterlassen.