Eine künstlerische Beziehung Friedrich Wolfs zu Fjodor Dostojewski

Emmi Wolf:

Eine künstlerische Beziehung Friedrich Wolfs zu Fjodor Dostojewski

Wenn man vom Einfluß der russischen Literatur auf Friedrich Wolf sprechen will, muß man die beiden großen Schriftsteller Tolstoi und Dostojewski nicht nebeneinander, sondern nacheinander nennen. Die tiefgreifende Wirkung der Werke und der Lehre Tolstois auf die Intelligenz nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, fällt in die Jahre des 1. Weltkrieges. Tolstoi nannte jeden Krieg ein Verbrechen der Obrigkeit gegen das Volk. Die Obrigkeit mache hunderttausende Menschen zu Mördern. Einen Ausweg für die Menschheit könne es - seiner Auffassung nach - nur durch eine grundlegende Erneuerung des Menschen geben.

In einem Brief an Gustav Gerstenberger vom 4. Oktober 1918 schreibt Friedrich Wolf: “Nicht um politische oder soziale Dinge handelt es sich hier zuinnerst; es handelt sich hier um Dein persönliches Gerechtigkeitsgefühl, um Dein Sittlichkeitsbewußtsein, es handelt sich hier um Dein religiöses Empfinden! Verstehst Du nun, Gustav, wie ichs meine, worin m.E. das eigentliche Problem unserer Zeit (wie aller Zeiten) ruht; wo der Angelpunkt meiner Weltanschauung liegt, die von Tolstoi befruchtet, sich erst entfaltet? Nicht um die Menschheit gehts, es geht um den Menschen; nicht um das Reich; es gehet um das Herz! Und nun wirst Du mit Recht fragen: ‚Warum hast Du selbst noch nicht angefangen, oder wie gedenkst Du anzufangen?‘ Tolstoi gab zuletzt den Kampf auf und floh, da er den Kompromiß zwischen der ‚Gesellschaft‘ und dem Gebot seines Inneren nicht ertrug. Wir müssen den Kampf aufnehmen, und wenn wir ‚in der Idee leben‘ wollen (d.h. leben müssen) ‚das Unmögliche behandeln als ob es möglich sei!” (1)

Am Ende des Krieges gestaltet Friedrich Wolf die Problematik in seinem expressionistischen Drama “Das bist Du”, das mit großem Erfolg 1918 in Dresden aufgeführt wurde. Die Hoffnung auf eine grundlegende Wandlung des Menschen und durch ihn der Gesellschaft, war bald erschüttert.
Schon in seinem nächsten Drama “Der Unbedingte” (1919) setzt er den Kerngedanken seines Stückes als Motto voraus: “Das Geripp: ‚Es ist das größte Verbrechen, die Menschen zu überschätzen., Die Dichtergestalt: ‚Es ist die einzige Möglichkeit überhaupt zu leben.” (2)
Dieses Dilemma beschäftigt Friedrich Wolf noch viele Jahre. Bemerkenswert ist, daß Wolf die bedeutendsten Werke von Tolstoi und Dostojewski erst nach der Novemberrevolution gelesen hat. Am 25. März 1919 schreibt er an die Mutter: “Lest bitte doch einmal Dostojewskis ‚Erinnerungen aus dem Totenhaus‘ (Sibirien) o. ‚Die Brüder Karamasoff‘, oder Tolstois ‚Auferstehung‘ (dort gewiß in einer Leihbibliothek)!” (3)
Wolf berichtet seiner Mutter von einem Tolstoi-Abend, den er vor der Jugend des Bezirkes Dresden-Johannstadt abgehalten hat und öffnet ihr sein Herz: “Ich bin mir klar geworden, daß ich in der sozialen Bewegung - die, wenn Ihr Euch besinnt, seit Jugend auch mich bewegte - tätig sein muß. Hierzu braucht man Resonanz und die schwingendste, die proletarische Jugend!« (4)

Ich brauche hier nur darauf hinzuweisen, daß Wolf ob in Remscheid (an der Volkshochschule und im Kampf gegen den Kapp-Putsch), in Worpswede und in Hechingen, stets diesem Anliegen gefolgt ist. Die Jugend war seine Hoffnung, und er drückte dies in seinem ersten Roman mit dem Titel “Kreatur« aus, den er 1925 geschrieben hatte, der 1926 erschien und 1927 zum Bestseller wurde. Bei der Arbeit an diesem Roman war Friedrich Wolf tief beeindruckt vom großen Erfolg seines Dramas “Der Arme Konrad”, das in dieser Zeit auf mehreren Bühnen in Deutschland aufgeführt wurde. Die letzten Worte des Bauernführers Konz vor seinem Tod: “es war doch eine große Sach, die wir taten... sie ward nit widerrufen, Geselln, sie ward nit widerrufen... einmal wird sie wiederkommen!”, korrespondieren mit dem Vorwort zum Roman “Kreatur«, in dem Wolf ankündigt: “Ein neuer Strom beginnt uns zu unterspülen! Wir müssen die Boote richten, die Augen schärfen: Wir wagen auf jeden Verruf hin ‚Tendenzromane‘, die Fragen stellen, auch ‘schneidende! Wir stehen da in unseren leise dröhnenden Tagen zu Solons Gesetz, das im alten Athen jeden für ehrlos erklärte, der bei einem Aufruhr sich neutral verhielt.” (5)
Am 2. März 1925 schreibt Friedrich Wolf an den Leiter des Stuttgarter Jugendrings, Emil Gemeinder: “Ich habe ‚Gestalten‘ und bin außerdem über einem eigenartigen Ding - wenn man will - Roman, der ganz aus der sich jetzt vollziehenden industriellen Umwälzung geboren ist...” (6)
Wolf präzisiert die Situation, die seinem neuen Werk zugrunde liegt in einem Artikel: »Die Fahne und ihr neuer Träger” (Beilage »Deutsche Jugend” zum »Stuttgarter Neuen Tageblatt” vom 19.2.1925): “Heute liegt das Schicksalsjoch, die große Not und die große Sehnsucht bei unseren Brüdern in den Schreibstuben und Warenhäusern. Sie alle kämpfen den weißen Tod, gegen die Erbitterung und Verödung ihrer Herzen, gegen Mißbrauch und die Abstumpfung ihres Lebens. Die Fackel ihrer Leidenschaft schwelt am Boden! Tretet an ihre Seite! Noch ist es Zeit!” (7)
Wenn Friedrich Wolf auch eindrucksvoll die Not der jungen Fabrikarbeiter zeichnet, geht sein Anliegen im Roman tiefer. Ich möchte auf eine Seite aufmerksam machen, die bisher kaum gesehen worden ist.
Als ich zum erstenmal den Roman “Kreatur” gelesen habe, ist mir aufgefallen, daß das Kapitel “Adam und der Mann am Kreuze” vom Autor als Traum des Haupthelden, des Werkstudenten His, ausgewiesen, eine Legende ist. Ich suchte nach einem Hinweis des Autors und fand ihn in einem Brief an Emil Gemeinder vom 26. November 1925 unter dem Vermerk: “P.s.: Ich sende Dir vielleicht eine kleine Legende demnächst.« (8)
Da ich über Dostojewskis Schaffen promoviert habe, ist mir auch aufgefallen, daß diese Legende in interessanter Weise mit der berühmten “Legende vom Großinquisitor” Dostojewskis korrespondiert. Auch hierzu fanden sich Hinweise.

Friedrich Wolf hatte 1924 bis 1927 engeren Kontakt zu dem Künstler Willi Geißler. Dieser hatte 1924 fünf Holzschnitte für eine Einzelausgabe von Dostojewskis “Legende vom Großinquisitor” gemacht und dieses Büchlein Friedrich Wolf geschickt. Wolf schrieb zurück, daß Geißler wirklich das Wesentliche der Legende erfaßt habe. Am 10. August 1925 veröffentlichte Wolf - er arbeitete gerade intensiv an »Kreatur” - einen Artikel über Willi Geißler “Der künstliche Mensch” (Friedrich-Wolf-Archiv), in dem er auch die Holzschnitte Geißlers zur “Legende vom Großinquisitor” erwähnt. Geißler gestaltet dann auch den Einband und den Schutzumschlag für die Ausgabe von »Kreatur” im Sponholz Verlag 1926 und 1927 und fertigt 6 Linolschnitte zu Wolfs “Der Arme Konrad” im Selbstverlag Willi Geißler an. Fest steht, daß Friedrich Wolf seine Legende “Adam und der Mann am Kreuze” in frischer Kenntnis von Dostojewskis “Legende vom Großinquisitor” geschrieben hat. Beide Legenden sind gleichzeitig auf dem Büchermarkt, beide wollen, bzw. sollen Position in der sozialen, geistigen und ideologischen Auseinandersetzung einnehmen.

Dostojewski hat die “Legende vom Großinquisitor” in seinen letzten und bedeutendsten Roman “Die Brüder Karamasow« eingearbeitet und ihr die Funktion der zentralen Aussage des Werkes übertragen. An der organischen Zugehörigkeit der Legende zum Roman ist nicht zu rütteln. Dennoch muß der “Legende vom Großinquisitor” auch eine eigenständige Existenzberechtigung zugesprochen werden. Das Thema der Legende ist das Schicksal der Menschheit und der Menschen. Dostojewski selbst hat ihr zu einem selbständigen Leben verholfen, als er sie bei öffentlichen Lesungen vortrug.
Die heftige Reaktion des Oberprokurators der Heiligen Synode, Konstantin Pobedonoszew und das Verbot des Rektors der Moskauer Universität, die Lesung der Legende vor der studentischen Jugend zu wiederholen, zeugen davon, welch scharfe antidespotische Aussage die Legende als selbständiges Werk zu ihrer Zeit hatte. Sie zeugt auch davon, daß die Kritik Dostojewskis nicht nur der Katholischen Kirche zugedacht war.
Das erhielt auch der Legende die Aktualität in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg. Natürlich ist die Kritik an der Katholischen Kirche vordergründig und war auch noch in den Nachkriegsjahren aktuell. Die Katholische Kirche wies Dostojewskis Kritik zurück und machte ihrerseits den atheistischen Humanismus für den leidvollen Weg der Menschheit verantwortlich. Ihre Forderung nach der Rückkehr zu den Werten des christlichen Mittelalters führte direkt zur Ablehnung der „Legende vom Großinquisitor“.

Auch Friedrich Wolfs Legende “Adam und der Mann am Kreuze« wurzelt im gesamten Roman und verallgemeinert zugleich seine Aussage. Auch sie provoziert eine gesellschaftliche und innerchristliche Auseinandersetzung. Ähnlich wie Dostojewski, gibt Friedrich Wolf seiner Legende ein eigenständiges Leben.
Am 17. November 1925 schreibt er an Emil Gemeinder: “Ich lese einen Akt meines neuen Dramas ‘Kolonne Hund‘ (Worpsweder Zeit) und aus dem neuen Roman ‘Kreatur‘ zwei Abschnitte u.a. ‘Adam und der Mann am Kreuze‘, ich glaube, gerade dieser Teil, der eine sehr akute Frage umkreist, würde auch vielen Köngenern etwas geben.” (9)

Da ich vom Einfluß Dostojewskis auf das Schaffen Friedrich Wolfs sprechen möchte, wende ich mich zuerst Dostojewskis “Legende vom Großinquisitor” zu.
Die Legende ist im Roman “Die Brüder Karamasow” eine Dichtung einer der Brüder, Iwan Karamasow. Iwan erzählt die Legende seinem Bruder Aljoscha nach einem Disput, den Dostojewski in der Kapitelüberschrift “Pro und Contra” bezeichnet. Iwan erklärt seinem Bruder Aljoscha, daß er nach Europa ginge und meint: “... dabei weiß ich wohl, daß ich nur auf einen Friedhof fahre, doch ich fahre auf den allerehrwürdigsten Friedhof, das ist es! Ehrwürdige Tote liegen dort, jeder Stein über ihnen kündet von solchen glühend gelebten vergangenen Leben, von solchem leidenschaftlichen Glauben an die eigene Tat, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf, an die eigene Wissenschaft, daß ich, das weiß ich schon jetzt, zu Boden fallen und diese Steine küssen und über ihnen weinen werde.« (10)
Aljoscha spürt die Verzweiflung seines Bruders Iwan, glaubt aber, daß sich dieser noch retten kann und sieht die Rettung Iwans darin, .. .“daß er seine Toten auferwecken muß, die vielleicht niemals wirklich gestorben sind..” (11)
Auch Aljoscha selbst, der Novize des Starzen Sossima, ist an einem Scheideweg. Iwan fragt ihn, ob es denn stimme, daß er das Kloster verlassen will. Aljoscha antwortet: “Ja. Mein Starez schickt mich in die Welt”.
Die Brüder mußten sich aussprechen, ebenso wie die ganze russische Jugend derzeit dabei war, Fragen zu stellen und sich auszusprechen. Iwan sagt es: “Wir, die Grünschnäbel, müssen anderes lösen: vor allem die uralt - ewigen Fragen - das ist unsere Sorge. Das ganze junge Rußland erörtert ja jetzt nichts anderes als die Fragen der Ewigkeit. Gerade jetzt, da es den Alten einfällt, sich nur noch mit praktischen Fragen zu befassen...” (12)
Und welche Fragen erörtert die Jugend? Iwan benennt sie: “Gibt es Gott, gibt es die Unsterblichkeit? Und die an Gott nicht glauben, die reden dann eben vom Sozialismus und vom Anarchismus, über die Umgestaltung der ganzen Menschheit, über eine neue Ordnung, also es kommt wieder dieselbe Geschichte dabei heraus, es sind dieselben Fragen, bloß vom anderen Ende her.” (13)
Iwan verrät seinem Bruder, daß er ein Poem gedichtet habe, er nenne es “Der Großinquisitor”. Veranlaßt habe ihn der große Zweifel, der an ihm nage. Er glaube an Gott, an seine Allweisheit und Ziel, er glaube auch an die ewige Harmonie. Nicht Gott ist es, den er nicht gelten ließe..., es ist die von ihm geschaffene Welt - sie akzeptiere er nicht. Und er akzeptiere nicht, daß alles, was mit den Menschen geschehen ist, in einer zukünftigen Harmonie gerechtfertigt und vergeben werden soll. Die Erwachsenen mögen leiden, sie haben gesündigt. Aber die Kinder? - Und hier verweist Aljoscha auf Christus, der alles verzeihen könne, weil er sein eigenes schuldloses Blut hingegeben habe.

Dostojewskis bzw. Iwans “Legende vom Großinquisitor” ist im 19. Jahrhundert geschrieben und handelt im 16. Jahrhundert. Ort des Geschehens ist die Stadt Sevilla in Spanien. Es geschah in der gräßlichen Zeit der Inquisition, als zum Ruhme Gottes alltäglich die Scheiterhaufen brannten.
Iwan führt die Legende folgendermaßen ein: Die Menschheit habe viele Jahrhunderte zu Christus gebetet: “Herr, zeig Dich uns!”. Nun also verlangte es Ihn, sich dem Volk zu zeigen, seis auch nur für einen Augenblick - dem Volk, das sich quält, das leidet, das schauderhaft sündigt, Ihn aber kindlich liebt. Er tritt dort unter die Menschen, wo die Scheiterhaufen der Ketzer aufgelodert sind. Und er zeigt sich ihnen in jener menschlichen Gestalt, in der er vor fünfzehn Jahrhunderten unter ihnen gewandelt war.
Iwan schildert diese Wiederkunft Christi folgendermaßen: “Er kommt herab auf die ‚sonnenheißen Gassen‘ einer Stadt im Süden, dort, wo erst am Tag vorher in einem ‚prächtigen Autodafé‘ vor dem König, dem Hof, vor Rittern, Kardinälen und den reizenden Hofdamen, vor der vielköpfigen Menge des ganzen Volkes von Sevilla der Kardinal Großinquisitor beinahe ein volles Hundert Ketzer auf einmal ad gloriam Dei hat verbrennen lassen.
Still ist er erschienen, unauffällig, und doch - seltsam -erkennen ihn alle...
Mit unaufhaltsamer Gewalt strebt das Volk zu Ihm, umdrängt Ihn in wachsender Zahl, folgt Ihm. Stumm wandelt Er unter ihnen mit dem stillen Lächeln unendlichen Erbarmens. Die Sonne der Liebe flammt in Seinem Herzen, und die Augen gießen ihre Gnadenstrahlen erleuchtend und wärmend über die Menschen, daß ihre Herzen in erwidernder Liebe erbeben. Er streckt die Hände zu ihnen hin, segnet sie. Heilende Kraft geht von Ihm aus, wenn jemand Ihn oder auch nur seine Kleider berührt.”( 14) Auf seinem Weg läßt Christus einen Blinden wieder sehen und erweckt vor dem Dom ein kleines Mädchen vom Tode.
Das Volk ist wie im Taumel. Eben in diesem Moment erscheint auf dem Platz der Kardinal Großinquisitor. In gewissem Abstand folgen ihm seine finsteren Mannen und Sklaven und die “heilige Wache”. Er sieht alles und sein Gesicht verdüstert sich. Er streckt den Finger aus und befiehlt den Wachen, Christus zu fassen. “Und siehe, so groß ist seine Macht, und so gut hat das Volk gelernt, was es tun muß, so ergeben ist es ihm, so angstvoll gehorsam, daß die Menge sofort den Wachen eine Gasse öffnet...” (15)
Christus wird verhaftet. Sie bringen ihn in einen Kerkerraum. Dann erscheint mit einem Leuchter in der Hand der Großinquisitor. Er befiehlt Christus zu schweigen, er habe ja kein Recht, zu dem, was er damals gesagt habe, etwas hinzuzufügen. Und stellt doch die Frage: “Warum bist Du gekommen, uns zu stören?« Ohne auf eine Antwort zu warten, droht er Christus, ihn am nächsten Tag als den schlimmsten Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen. Er versichert, daß dasselbe Volk auf seinen einzigen Wink hin die Kohlen in den Scheiterhaufen werfen werde. Dennoch hat der Großinquisitor das Bedürfnis, sich endlich auszusprechen, sich zu rechtfertigen, mit Christus abzurechnen. Er wirft Christus vor, auf den Rat des Klugen Geistes nicht gehört zu haben, der besser wußte, wie die Menschen, das Volk, zu befrieden und glücklich zu machen sei.
Der Großinquisitor, bzw. die Katholische Kirche, habe ihr Werk aufgebaut auf der Erkenntnis, daß die Menschen niemals frei sein werden, weil sie schwach, lasterhaft, nichtig und aufrührerisch sind. Diese Menschen hätten es niemals fertiggebracht und würden es in Zukunft niemals fertigbringen, untereinander zu teilen. Um des Brotes Willen hätten sie den Tempel Christi gestürzt und ihren eigenen aufgebaut. Schließlich haben sie erkannt, daß sie zur Freiheit nicht fähig sind. Sie legten diese Freiheit der Kirche vor die Füße und baten: “Versklavt uns lieber, aber ernährt uns.« Noch quälender sei für die Menschen die Freiheit des Gewissens gewesen, die ihnen von Christus auferlegt worden war. Mit freiem Herzen sollte der Mensch selbst entscheiden, was gut und böse ist. Damit habe Christus selber den Grund geschaffen zur Zerstörung seines eigenen Reiches. Der Vorwurf des Großinquisitors lautet: “Was aber, was war Dir geboten worden? Drei Kräfte gibt es, einzig diese drei Kräfte auf Erden, die imstande wären, auf ewig das Gewissen dieser schwächlichen Aufrührer zu bezwingen und zu gewinnen, zu ihrem eigenen Glück; das sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität” (16)
Der Großinquisitor gibt offen zu: “So haben wi‘rs denn auch gehalten. Wir haben Deine Tat korrigiert und sie auf Wunder, Geheimnis und Autorität gegründet. Und die Menschen freuten sich, daß man sie wieder zu führen begann wie eine Herde...” (17)
“...denn sie werden sich erinnern, zu welchen Schrecknissen der Sklaverei und der Verwirrung Deine Freiheit sie geführt hat. Die Freiheit, der freie Verstand und die Wissenschaft werden sie in solche Abgründe führen, ihnen solche Wunder und unlösbaren Geheimnisse in den Weg stellen, daß ... sie uns zu Füßen liegend, uns mit Wehklagen bestürmen: ... rettet uns vor uns selbst!”( 18)
Der Großinquisitor ist siegesgewiß: “Dann werden wir ihnen ein Glück in Stille und Demut geben, das Glück der schwachen Geschöpfe, als die sie geschaffen sind. Oh, wir werden sie schließlich überzeugen, daß sie keinen Grund haben, stolz zu sein. Wir werden ihnen beweisen, daß sie schwach sind, nichts als armselige Kinder, daß aber das Kinderglück süßer ist, als jedes andere.” (19)
Und wieder droht der Großinquisitor Christus: “Morgen verbrenne ich Dich. Dixi« (20)
Iwan überlegt und will seinem Poem ein anderes Ende geben: “Der Inquisitor verstummt, er wartet eine Weile, daß der Gefangene ihm antwortet, Sein Schweigen bedrückt ihn... Der Greis möchte, daß Er ihm etwas sage, irgend etwas, mag es auch Bitteres, Furchtbares sein. Doch Er tritt stumm auf den Greis zu und küßt ihn sacht auf die blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist die ganze Antwort. Der Greis erzittert, etwas zuckt in seinen Mundwinkeln; er geht zur Tür, öffnet sie und spricht zu ihm: ‚Geh, und kehr nie wieder... kehr überhaupt nicht wieder... niemals, niemals!‘ Und er läßt ihn hinaus auf die ‚finsteren Gassen der Stadt.‘ Der Gefangene geht fort.” (21)
Der Bruder Aljoscha reagiert spontan: “Dein Poem ist ein Lob auf Jesus, keine Listerung, wie Du es wolltest.” (22)
Und tatsächlich: Dostojewski läßt in dieser Legende Christus sein Vermächtnis nicht widerrufen. Er bleibt beim Postulat der Freiheit des Menschen. Und der Großinquisitor wagt letztlich nicht, ihn zu verbrennen. Der Christus der Legende verkörpert die Achtung vor dem Menschen, die Liebe zu ihm und den Glauben an das Volk. Der Großinquisitor verkörpert die Menschenverachtung und die Geringschätzung des Volkes. Er wirft Christus vor allem vor: “Indes, auch hier hattest Du eine zu hohe Meinung von den Menschen, denn sie sind nun einmal Unfreie, wenn auch als Empörer geschaffen... Ich schwöre Dir, der Mensch ist schwächer und niedriger geschaffen als Du geglaubt hast! Schwach ist der Mensch und gemein.” (23)

Unschwer kann man erkennen, daß die Problematik, die hier aufgeworfen ist, Friedrich Wolf sehr nahe lag. Er reagierte. Seine Legende “Adam und der Mann am Kreuze” handelt jedoch in der Gegenwart, in den 20er Jahren. Friedrich Wolf stellt sie selbst in eine Beziehung zur “Legende vom Großinquisitor”. In seinem Artikel “Der neue Glaube” schreibt er: “Christus, käme er heute wieder, würde die neue Lebenswirklichkeit der ‚Masse‘, des Proletariats der Industriestädte nicht akademisch oder demagogisch erfassen, er würde die Not - die wahre Not, die immer eine Herzens- und Leibesnot ist - so anpacken, wie sie heute sich ihm darbietet, er würde kaum als besoldeter Staatsbeamter auf gesicherte Kanzeln treten und auch heute nicht ‚jungen Most in alte Schläuche‘ füllen, er würde so dastehen, wie der Unbekannte im ‚Großinquisitor‘, er würde wohl kaum von den wirtschaftlichen und religiösen Nöten reden, weil das lebendige Leben diese Trennung nicht kennt, er würde heute vielleicht gar nicht mehr vom Diesseits und Jenseits so sehr reden, sondern das eine Wort in den Mittelpunkt stellen: ‘Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; es ist weder hier noch dort: das Reich Gottes ist mitten unter Euch!‘ So kämpften ein Thomas Münzer und Heinrich Pfeffer einst lebenswirklich den Kampf ihrer Elendsbrüder von dieser Erde.” (24)
Wie bei Dostojewski ist auch bei Friedrich Wolf die Not des Volkes Ausgangspunkt der Legende. Wolf schildert das Schicksal der Menschen in der sich unmittelbar in Südschwaben vollziehenden industriellen Umwälzung, an Hand einer Familie, der Nädelers.
Der Vater ist Holzschnitzer, die zweite Tochter Genovef arbeitet in der Schuhfabrik und versorgt vier Kinder, weil die Mutter bei der Geburt des letzten Kindes gestorben ist. Die ältere Tochter Marie will mit aller Gewalt aus dem Elendsleben heraus. Sie hat bereits ein Kind, das auch noch geistig behindert ist. Der Vater ist verschwunden. Der Fabrikarbeiter Dionys Nädele (“Tonnys” genannt) heiratet sie. Sie haben ein Haus gebaut, es ist Maries ganzer Stolz, als ob sie mit ihm das Elend und die Schande überwunden hat. Sie sind verschuldet, zahlen ab, arbeiten dafür nicht nur in der Fabrik, sondern zusätzlich. Dionys geht kellnern, Marne bearbeitet ein Stück Feld. Im Unterschied zu Marie, die schön und kräftig ist, ist ihr Mann schmächtig und kränklich. Doch er trägt alle Qual ohne zu murren, auch daß Marie unbedingt ein eigentlich entbehrliches Vertiko haben will.
In das Leben der Familie tritt der Werkstudent His ein. Er studiert Wirtschaftswissenschaften. In den Ferien arbeitet er mit den anderen in der Schuhfabrik. Außerdem hilft er Marie im Garten. Er ist gerne beim Vater Ruoff und verliebt sich in die zarte, aber mit Arbeit überforderte Genovef. Auf dem Wege zu ihr kommen ihm unfrohe Gedanken: “Diese stählerne Härte, diese Kettenspannung des Lebens mit Arbeit, Gewinn, Leistung, Sicherheit, Aufstieg, diese exakte Gleichung macht ihn unfroh und müde.”(25)
Der Kriegsinvalide Hopfuß geht in einer Auseinandersetzung mit dem Pfarrer noch weiter: “... wenn Christus heut wiederkehrte auf diese Erd, er würd seine Mahnung: Liebet einander! nit gleich im Anfang künden; er würd als Anfang und Erstes über euch alle rufen: Schaffet nit so viel, ihr Menschen!... ‘Schaffet nit so viel!‘ würd er sagen... bestimmt, Herr Pfarrer; ihr schafft mir das Leben noch tot mit eurem Wettrennen, eurem Akkord, mit eurem den andern an die Wand drücken... schaffet nit so viel! So würd das neue Gebet des Messias heißen!” (26)
Die Verachtung des Menschen, vor allem des arbeitenden Menschen, wie sie der Großinquisitor äußert, finden wir im Roman “Kreatur” bei der Fabrikantin Lucia und ihresgleichen. “Ja, His! Begreifen Sie doch, diese Menschen sind ja glücklich in ihrem harten Leben; sie wollen essen, trinken, schlafen und vielleicht noch eine schöne Glocke um den Hals tragen. Sie aber, His, Sie wollen diese derben, stiernackigen und zufriedenen Geschöpfe plötzlich zu Schwänen machen mit weißem Gefieder und Wolkenflug!” (27)
His ist empört: “Gar nicht will ich das! ... Ganz das Gegenteil liebe, hoffe und will ich von meinen Zehnstundenbrüdern! Schwer sollen sie bleiben wie die Stiere und Gäule unterm Joch noch gehen, Nackenkräft sammeln, nicht aber wie Zirkuspferde unter falschem Flitter tänzeln.” (28)
Ein anderer Fabrikant macht sich Luft: “Ihre Redensarten sind mir zu dumm! Aber wir wissen, was hinter diesem unreifen Gehetze steckt. Ehrgeiz! Großmannssucht! Heilandsmanie! Sie schwatzen den Arbeitern von Freiheit und Menschenrechten, sie schwärmen für diese begabten Töchter des Volkes und werfen sich zu ihrem Anwalt auf ... haha, wir wissen besser, worin diese Mädels begabt sind!” (29)
Tonnys, der Mann von Marie, erkrankt durch die Überlastung und die seelische Not, denn der Schuhfabrikant braucht das Blut von Marie für seine kranke Frau und macht Marie schließlich zu seiner Geliebten. Tonnys leidet, murrt aber nicht, trägt alles still. His sieht ihn im Bett liegen. Unweigerlich kommt ihm der Gedanke: “...er sieht wie ein feiner Gelehrter aus, nein, wie ein Musiker mit einem horchenden Antlitz, nein - darf man‘s sagen - wie ein deutscher Christus”.( 30)

Diese gesellschaftliche, geistige und private Situation sind der Ausgangspunkt für Wolfs Legende “Adam und der Mann am Kreuze”, die im Roman der Traum des Werkstudenten His ist. Wie in Dostojewskis “Legende vom Großinquisitor” beginnt die Handlung der Legende Wolfs in einer Stadt, auf dem Platz vor einem großen Dom. Doch schon den Platz schildert Wolf völlig anders als Dostojewski. His, der Werkstudent, fällt in tiefen Schlaf, doch beginnt im Schlaf ein Wachen über sich, er schwebt über seinem eigenen Haupt. “Plötzlich sieht er einen Menschen wandern, die Lenden gegürtet, Sandalen an den Füßen, den Beutel und das Trinkgerät zur Seite.
Dieser Mensch, langbeinig, doch breitschultrig mit mächtiger Brust, starkem Nacken und rötlichem Haarschopf, schreitet wie ein Naturapostel durch eine große Stadt. Die Mittagshitze brütet über dem Asphalt, die Riesenwarenhäuser, Konfektionsläden und Wolkenkratzerbureaus haben eben zur Mittagspause ihre Menschenmassen ausgespien. Die Straße brodelt von Dampf, Lärm und Gerüchen, die Trams rattern, die Autos bellen, die Menschen surren durcheinander wie ein Bienenschwarm. Benzinstaub klebt am Gaumen. Durch diese Straße müht sich der rötliche Mensch, barhaupt, in Sandalen, Trinkgerät und Beutel an der Seite. Beklemmung und Zorn färben seine Stirn.” (31) Und weiter:
“Auf einmal spürt er einen Hauch. Zur rechten buchtet ein runder Platz, mit ein paar baumartigen Gewächsen bestanden. Der rötliche Mensch bahnt sich eine Gasse, spürt, wie er bald hier, bald da auf fremden Füßen steht, hört Flüche noch, dann liegt die kochende Welle hinter ihm. (32)
Wir stellen fest: Die Menschen bewegen sich in den Straßen, nicht auf dem Platz. Sie haben keine Beziehung zur Kirche. Der rötliche Mensch gerät auch mehr zufällig auf die Stufen der Kirche. Friedrich Wolf beschreibt es: “Er steht allein, auf Steinfliesen, auf einer breiten quadrigen Treppe aus hellem Basalt, dicht vor ihm das Portal einer hohen Kirche. Drunten hastet der Menschenstrom, keiner sieht hinauf, die Sonne brennt.” (33)
Der rötliche Mensch, wie ihn Wolf zunächst nennt, tritt ein: “Kühle, Dämmer. Farbiges Wunderlicht durch die hohen bemalten Fenster... Und Stille. Kein Mensch in dem gewaltigen Bau. Keine Fliege, die summt. Kein Atemzug außer dem seinen... Gleich vor dem Chor, eine Stufe über dem Boden, steht ein Taufbecken und dahinter ein sehr hohes Holzkreuz mit dem Gekreuzigten daran... Betäubend diese Stille und Kühle, losgelöst vom Leben...” (34)
Der rötliche Mensch hat nicht das Bedürfnis zu beten, es meldet sich auch der Hunger. Er holt das Brot aus dem Beutel, ein Stück Käse dazu und beginnt mit Behagen zu essen. Plötzlich klingt eine Stimme. “Du issest und mich hungert...”
“Hast du mich vergessen... Adam ... rothaariger Bruder?” (35)
Der Mann am Kreuz nennt ihn also Adam. Es entsteht ein Gespräch zwischen Adam und dem Mann am Kreuze:
“‚Bist du es?‘ stöhnt der Mensch und schaut, wie der Mann am Kreuz sich rührt und den Kopf von einer Schulter zur anderen neigt.
‚Ich bin es!‘ spricht der Mann droben. ‚Doch laß dein Brot nicht fallen, wir werden es brauchen...‘” (36)
Wir können feststellen: Wolf spricht nicht wie Dostojewski von Christus, sondern vom Gekreuzigten. Es ist auch kein Erscheinen, keine Wiederkunft Christi, wie bei Dostojewski. Und der Gekreuzigte schweigt nicht wie Christus in der “Legende vom Großinquisitor”. Er spricht zu Adam, dem Menschen.
“‚Ja, Adam, mich.. .hungert‘.
Den rötlichen Menschen schauderts: ‘Wie kann dich hungern, da dein Leib das Brot des ewigen Lebens, da nie dürsten wird, wer von deinen Worten trinkt.‘”(37)
Der Gekreuzigte widerspricht und beklagt sich über sein Schicksal. “‚Gesell‘ - stöhnt der Mann am Kreuz, ‚ich danke dem Schöpfer aller Kreatur, daß mich wieder darbt und dürstet! Zu lang starb ich den starren Tod des Papiers und des Gipses, zu lang ist‘s her, daß man um mich kämpfte und litt, zu lang schon hat man mich verehrt, nein, ich ward alt und steif auf all den Postamenten und feilen Drucken, ich spüre es mit Todesschmerz, die Menschen speien mich aus ihren Herzen, sie führen mich im Mund und setzen mich auf Säulen ... ich ward ein Schatten meiner selbst! Und deshalb hungert‘s mich mit Wildheit...” (38)
“Herr, lästerst du nicht deiner selbst!” ruft Adam aus. Doch der Gekreuzigte antwortet: “Laß Deine großen Worte, Adam! Glaub mir, mich hungerts wie ein hungersterbender - nicht nach Weihe. Opfer und Hochgesang - mich hungert, glaub mir‘s, nach einem Krumen Leben, mich hungert‘s nach ... Gewöhnlichem! Adam, dir sag ich‘s versteh es recht, ich möchte einmal wie der herab vom Kreuz, heraus aus den Kirchen und dem gesalbten Mund meiner Verkünder mitten unter meine Knechtsbrüder - denn: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken! - ich möchte einmal wieder mich mit ihnen mischen, eins mit ihnen werden, von ihnen verkannt, gehaßt, umkämpft, geliebt und auch gekreuzigt! Ich möchte leben, Adam!”( 39)
Es folgt dann ein kurzer Dialog:
“‚Wie soll das geschehen, Herr?‘ ‚Spürst du...es nicht... Adam?‘
‚0 Herr, ich stecke zu tief in diesem Leib.‘ ‚So wirst du es können!‘
‚Herr?‘
‚Du müßtest... mich... erlösen.‘ ‚Ich... dich.. .erlösen?‘
‚Ja, Adam! Heute müßtest du mich erlösen!‘” (40)

Daß der Mensch Christus erlösen soll, ist eine andere Fragestellung als bei Dostojewski. Dies war Wolf bewußt. Am Mai 1925 schreibt er an seine Frau Else: “Ich bin in meinem Roman an einem großartigen Punkt des Schlusses, einer herrlichen Erfindung, einem Traum, darin Adam und Christus sich begegnen und Adam Christus erlöst.” (41)
Und einige Tage später, am 11. Mai 1925: “Roman bis S. 130, der große Traum Christus und Adam beendet. Ich glaube, es sind dort neue Wege begangen.” (42)
Wolf liefert auch die Begründung für diese neuen Wege. “‚O Herr‘, spricht ratlos der Mensch, ‚du bist das mächtigste Wesen der Welt... in jedem Haus hängt dein Abbild, jedes Kind muß vom ersten Tag seines Lebens deine Worte lernen, millionenfach ist deine Lehre niedergeschrieben, auf allen Fahnen und Wehrgurten steht dein Name, in jeder Stadt, in jedem Dorf hat man himmelhohe Häuser errichtet, und ich soll dich erlösen?‘” (43)
Der Mann am Kreuz erklärt seine Situation noch einmal: “Du aber, Gesell, du bist in dieses Gebetshaus getreten im Stande der Unschuld, im Wanderschuh, sonnenverbrannt, erdbestaubt, nicht im Leichenbitterrock und mit jener Totenfeierlichkeit der Pharisäer, für die noch immer mein Gleichnis gilt von den übertünchten Gräbern! Du hast deine Sinne nicht lügen lassen, da dich hungerte im Bethaus -denn auch der Hunger kommt von Gott!” (44)
Adam muß das Brot auf den Altar legen, fünf Tropfen seines Blutes darauf träufeln und ein Lied singen. Er singt ein Wanderlied und den Trutzgesang, das “Geierlied”.
Plötzlich sprichts hinter ihm: “wie du singen kannst, Adam.”
Christus ist von Adam erlöst.
“Der rötliche Mensch erschrickt, er wendet sich nach der Stimme... da steht der Mann vom Kreuz, noch bleich von der jahrtausendlangen Starre und der kühlen Kirchenluft, und doch sieht man deutlich, daß Blut in seinen Adern rollt, auch sind die Wunden an Händen und Füßen überhäutet. ‚Da bin ich, Adam!‘ spricht er, und seine Augen leuchten wie das Tagesgestirn, wie die Augen eines Gefangenen, der seit Jahren in dunkler Haft in die Freiheit wieder tritt. ‚Da bin ich, Adam!‘ Wie ist die Welt schön, wenn man seinen Leib wieder hat!‘” (45)
Dostojewskis Christus-Gestalt bleibt der moralische Sieger. Trotz Androhung des Scheiterhaufens, trotz demagogischer Argumentation des Großinquisitors. Christus hat nicht widerrufen.
Die Christusgestalt der Legende “Adam und der Mann am Kreuze” von Friedrich Wolf widerruft.
Kaum vom Kreuz abgestiegen, wendet sich Christus an Adam: “... höre, Adam, spricht er leise, ‚ich glaube... ich habe... zu viel gewollt!‘
‚Wie Herr!‘ rohrt der rötliche Riese. ‚Du widerrufst dich nicht!”‘
Doch Christus beschwichtigt den Adam: “‚Adam! Zweitausend Jahre habe ich diese Welt vom Kreuze betrachtet und mein Herz ist stiller geworden und... hungriger. Ich habe geglaubt, euer aller Schuld auf mich nehmen zu müssen; aber ich sehe, dies war der Tod! Denn alles Leben erneuert sich erst wieder durch die Schuld! Auch hier gilt das Gleichnis vom Samenkorn!‘
‚Doch, Herr‘ sporntest du uns nicht, wir sollten schuldbefreit und vollkommen werden, wie der Vater im Himmel vollkommen ist?‘”(46)
Christus erläutert Adam seine neue Menschensicht: “Ich habe zu viel gewollt, Adam, ich sagte es; das Salz des Lebens ist nicht das Leben! Das Leben ist nicht Vollkommenheit, es ist ein dauerndes Kommen und Gehen, ein In-die-Halme-sprießen und ein Früchtefallen, ein Beben zwischen Vollkommenem und Unvollkommenem! Wer mehr fordert, trügt!‘” (47)

In diesen Zeilen ist etwas von dem, das auch Friedrich Wolf als Dichter für sich zu widerrufen hatte: den Unbedingten, den Idealisten, den Fordernden.
“Adam versteht nicht: ‚so forderst du heute nicht mehr?‘
Christus: ‚Und wenn ich forderte!... Habe ich nicht gefordert und mit Zeichen und Feuerzungen den Weg der Vollkommenheit gewiesen! Was ist anders geworden seit meinem Tode? Hat nur ein Gran der Haß nachgelassen auf Erden, mehrten sich die Friedfertigen, warden weniger Lüge und Heuchelei, nahm der Bekennermut zu und die Unsorge um die Güter dieser Welt, näherten sich die Herrn und Beutelschweren nur um ein Haar mehr ihren geringeren Brüdern? ... Still, Adam, ich klage den Menschen nicht an; aber mein Tod wäre dreimal vertan, ich wäre ein Götze meiner selbst, wenn ich mich mit Anbetung und Bilderdienst begnügt, wenn mein Blut nicht doch noch einginge und sich mischte mit dem Blut der Menschen.‘ ”(48)

Obwohl die Christusgestalt in Wolfs Legende widerruft, nähert sie sich keineswegs der Gestalt des Großinquisitors. Christus will Mensch unter Menschen sein, will mit ihnen kämpfen.
Den Schluß der Legende bilden die Christus-Worte, die Wolf damals für äußerst wichtig hielt: “... diese Zeit stirbt, wenn wir beide uns nicht verbinden!” (49)

Am Anfang des Romans leitet Friedrich Wolf diesen Gedanken schon ein. Die Familie Nädele hatte in ihrem neuen Haus nur ein Kreuz mit dem Gekreuzigten darauf, es war ihr Leitstern. His, der Werkstudent, der kein Gläubiger war, schenkt dem Ehepaar eine prächtige Figur, einen Arbeiter aus Terrakotta, der sich mit halb entblößtem, muskulösem Arm auf einen mächtigen Schmiedehammer stützt; auf dem Sockel steht Herweghs unzweideutiger Vers: “Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!”
Dann noch ein Bild: Der Sonne entgegen!
Friedrich Wolf hat seinen Roman “Kreatur” mit einigen Artikeln begleitet. Es sind: “Der neue Glaube”, “Die Klarheit des Herzens”, “Die Fahne und der neue Träger”.

Im Artikel “Der neue Glaube”, den Friedrich Wolf nach Abschluß des Romans geschrieben hat, erläutert er auch den Schluß der Legende. Sich auf die “Doctrine Saint Simons” berufend, der der Menschheit eine religiöse Zukunft prophezeite, eine Religion der Zukunft, die größer und mächtiger sein würde als irgendeine Religion der Vergangenheit, zitiert Wolf dann aus der Nonsdorfer Rede Lassalles:
“Die Arbeiterschaft ist der Fels, auf dem die Kirche der Zukunft gerichtet werden soll.”
Auch in der Gegenwart Deutschlands - meint Wolf - wird die wirtschaftliche Unterdrückung und Menschenausbeutung zu einem Kampf um die Gerechtigkeit Gottes führen, wie es vor 400 Jahren zuvor schon auf den Fahnen des Bundschuh zu lesen stand.
“Nicht mehr Kirche hier und dort Leben: nicht mehr Lippenbekenntnisse am Sonntag und am Werktage heiliger Egoismus! Der neue Glaube wird aus der Gesamtwirklichkeit des Lebens, aus der simplen und doch unermeßlichen Not des Alltags heraus erwachsen.
Auch der neue Glaube an eine klassenlose, brüderliche Menschengemeinschaft muß ein gewaltiger, ich scheue mich nicht zu sagen: utopischer sein! Auch dieser neue Glaube muß ‚Berge versetzen‘ können, er muß ein messianischer sein, er muß ewigstes Menschensehnen in sich einschließen, ob er nun das Messiasreich oder den ‚Sonnenstaat‘ auf sein Banner schreibt. Aber in irgendeiner Gestalt muß er nach Verwirklichung streben, irgendwo muß er ehrlich dieses Banner aufwerfen und... b e g i n ne n!” (50)

In Europa sah er 1925 noch keine Anzeichen eines solchen Beginnens. Aber woanders.
“Ich sehe nach vielem Umherspähen einen neuen Anfang im Osten: In Rußland und auch in dem Indien Ghandis und dem China Sunjatsens. Hier ist der ängstliche Opportunismus von einem jugendstarken, sieghaften Idealismus überflügelt worden, hier ist man über Gräber hinweg zu Auferstehung gelangt.” (51) Dies war die Hoffnung Friedrich Wolfs 1926.
Bei allem Pessimismus in Bezug auf Europa schickt er den Helden seines Romans “Kreatur”, den Studenten His‘ ins Volk, zu den Arbeitern, um sich mit ihnen, - wie der Mann am Kreuz, - zu mischen, um mit ihnen als Gleicher die gleiche Not zu überwinden.
Wolf konnte nicht aufgeben. Es erging wieder ein Ruf von ihm: “Horchen wir auf den Glockenschlag der seltenen Stunde, in der wir heute leben, da der uralte Menschheitstraum des Messiasreiches, des Reiches der Gerechtigkeit von dieser Erde, wieder über uns dahinzieht! Da wieder der alte Ruf an die Wachenden ergeht: ‚Haltet eure Lenden gegürtet und eure Schuhe an den Füßen!‘ ”(52)
Über den Widerhall des Artikels “Der neue Glaube” schreibt Friedrich Wolf an Emil Gemeinder am 6. Februar 1926: “‚Der neue Glaube‘, den die Sonntags-Zeitung/Schraier brachte, hat mir eine große Zahl erfreulicher Zuschriften, vor allem von dem Bund der christlichen Volkskirchen/ Karlsruhe, von den religiösen Sozialisten (Mennicke) Berlin, von Lehrern aus Württemberg und Berlin und vielen Stillen im Lande gebracht. ‚Die große Sach ist nit tot, sie schläft nur‘, sagte der blinde Andres.” (53)

Ich glaube schon, daß die Probleme, die sich beim Vergleich von Dostojeskis “Legende vom Großinquisitor” und Wolfs Legende “Adam und der Mann am Kreuze” herauskristallisieren, in den 20er Jahren aktuell waren. Dostojewski hat sie die ewigen Fragen der Menschheit genannt, und Wolf läßt seinen Christus sagen: “Alles Leben erneuert sich durch die Schuld! Auch hier gilt das Gleichnis vom Samenkorn.” In seinem Brief an Gemeinder vom 3.2.1925 spricht er auch von einem ewig gesetzlichen Vorgang: dem “Rückströmen der Baumsäfte zur Wurzel im Herbst zum neuen Vorstoß im Frühling.” Das war seine Sicht.

So manche Stelle der “Legende vom Großinquisitor” und der Legende “Adam und der Mann am Kreuze” - meine ich - spricht auch unsere heutigen Geschichtserfahrungen an. Wir haben immer noch dieselben Fragen und keine endgültigen Antworten.

QUELLENNACHWEIS:
1 Friedrich Wolf, Briefe, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1969, S. 44/45
2 Friedrich Wolf,Dramen, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1960, Bd. 1, 5. 115
3 Briefe, S. 55
4 Briefe, S.54
5 Friedrich Wolf, Kreatur, J.H.W. Dietz Nachfolger, Berlin, 1926, S.3
6 Friedrich-Wolf-Archiv, Mappe 383 5
7 Friedrich Wolf, Die Fahne und ihr neuer Träger, Beilage, Deutsche Jugend zum Stuttgarter Neuen Tageblatt vom 19.2.1925

8 Briefe, S. 99
9 Friedrich-Wolf-Archiv, Mappe 383 5
10 Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karamasow, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1986, S. 368
11 ebenda S. 369
12 ebenda S. 372/373
13 ebenda S. 373
14 ebenda S. 398
15 ebenda S. 399
16 ebenda 5. 408
17 ebenda S. 411
18 ebenda S. 414
19 ebenda S.415
20 ebenda S. 417
21 ebenda S. 421
22 ebenda S.417
23 ebenda S. 393
24 Sonntag-Zeitung, Stuttgart, Nr. 4, 24. Januar 1926 und Kronacher Bund Jhrg. 5, Februar/ März Heft 8/9 S. 210
25 Kreatur S. 12
26 ebenda S. 69
27 ebenda S. 78
28 ebenda S.79
29 ebenda S.88
30 ebenda S. 56
31 ebenda S. 112/113
32 ebenda S. 113
33 ebenda S.113
34 ebenda S. 113
35 ebenda S. 114
36 ebenda S. 114
37 ebenda S. 114
38 ebenda S. 114
39 ebenda S.114/115
40 ebenda S. 115
41 Friedrich-Wolf-Archiv, Mappe 279
42 Friedrich-Wolf-Archiv, Mappe 279
43 Kreatur S. 115
44 ebenda S. 115
45 ebenda S. 117
46 ebenda S. 117
47 ebenda S. 118
48 ebenda S. 118
49 ebenda S. 120
50 Friedrich Wolf, Der neue Glaube, Sonntag-Zeitung Nr. 4, 24. Januar 1926
51 ebenda
52 ebenda
53 Friedrich Wolf an Emil Gemeinder, Friedrich-Wolf-Archiv, Mappe 383 5

 

DR. EMMI WOLF ist Literaturwissenschaftlerin und war langjährige Leiterin des Friedrich-Wolf-Archivs. Der hier wiedergegebene Beitrag erschien in der Publikationsreihe der Friedrich-Wolf-Gesellschaft EINSPRUCH im Jahr 1998.