Und die Menschen verändern sich

Paris, Januar 1939

Mischa, was hast Du für einen schlechten Papp, der sogar Deinen 16. Geburtstag vergisst! Zwar ist das an sich auch gar nicht auszudenken, dass Du schon 16 wirst – ich sehe noch, als sei es eben, wie Du als rosiges, nettes Klümpchen mit einem seidigen blonden Poposcheitel in meinem Arm lagst, damals – aber grad darum hätte ja der Rabenpapp an diesen Tag denken müssen! Nun, nimm´s nicht übel, mein Alter, sondern nimm einen festen Geburtstagskuss! Ich höre, Du bekommst jetzt Deinen eigenen Sowjetpass, wirst also ein richtiger Bürger des großen Sowjetvolkes. Auch dazu muss man Dir gratulieren. Und damit Du noch besser verstehst, was das bedeutet, will ich Dir ein bisschen erzählen, wie es hier im Westen aussieht und wie es mit jenen merkwürdigen Lebewesen steht, die – obwohl sie da sind – doch nicht da sind. Zum Beispiel die hunderttausende und bald Millionen Emigranten ohne Papiere. Ich mag Dir zu Deinem Geburtstag nichts vorjammern, aber Du wirst daran sehen, wie viel sinnvoller Dein Leben ist als das der hunderttausenden Jungen Deines Alters, die nunmehr jahrelang zwischen den Grenzen pendeln, nichts Rechtes lernen können, überall nur lästige Niemands sind. Morgen bin ich zum Beispiel mit einer Gruppe jüdischer Flüchtlinge zusammen, die sechs Wochen im Freien, jetzt im Winter, wie die wilden Tiere an der deutschen Westgrenze im Hitlerland herumstrichen und nur von den milden Gaben der Bauern lebten. Ein kleines Kind, das starb, mussten sie nachts im Feld irgendwo vergraben. Jetzt sind sie hier, haben aber nur für vier Wochen eine Aufenthaltsgenehmigung, dann beginnt das Hin- und Hergeschiebe. Werden sie nach England gelassen? Nein. Nach Honduras? Nach Madagaskar? In irgendein Pest- oder Wüstengebiet? Wenn einige etwas Geld haben, so nehmen die kleinen Raubstaaten oder Agenten es ihnen ab, und wenn sie dann glücklich in Uruguay oder Chile sind, dann heißt es, das alles stimmt ja gar nicht, sie seien einem Schwindler-Konsul in die Hände gefallen, also wieder zurück! So liegen sie in den Quarantänestationen in der ganzen Welt herum. Man kann sagen, das härtet den Menschen. Ja, wenn er sinnvoll kämpfen und arbeiten kann, selbst unter den schwersten Bedingungen, das kann ihn härten! Aber das Herumlungern, das schafft nur asoziale Existenzen und schlimmste Lumpenproletarier, Schnorrer, Deklassierte. Das müsst Ihr wissen. Deshalb ist heute die Emigration so schwer, weil man nicht arbeiten darf! Das ist das, was Du überall hier im Westen auf Deinem Visum zur Kenntnis nehmen musst. Heine in Paris … er bekam, was man ihm zu Unrecht vorwarf, vom französischen Staat eine Monatsrente! Märchenhaft! Oder die russischen Emigranten, etwa zwischen 1905-1914, sie reisten nach London, Zürich, Krakau auf die Kongresse, nach Capri usw. Heute kommst Du über keine Grenze mehr ohne Geldnachweis und Papiere. Oft allerdings festigt das Schwere die Solidarität. Die Leute, die mich morgen zu „grünen Klößen“ eingeladen haben, haben sich gerade aus ihrer Not heraus ein kleines Arbeitskollektiv geschaffen, das eine richtige „jiddische Mamme“ leitet, eine wunderbare Frau. Die haben selbst kaum was zum Leben, und jetzt kommen noch sechs bis zehn völlig abgerissene deutsche Juden zu ihnen, aber: Ohne mit der Wimper zu zucken, nimmt die Mamme sie auf, kleidet sie neu, füttert sie mit durch! Und natürlich das Erste: Sie müssen morgen früh am Boulevard Mont Matre den „Professor Mamlock“-Film sehen! Darauf legt die Mamme, die aus Lodz stammt und seit ihrem zwölften Jahr das Leben in jeder Weise kennt, besonderen Wert! Und mit welchem Stolz sie von der Sowjetunion spricht, obschon sie selbst nie dort war und obwohl die Polen ihren Jungen so schlugen, dass er gelähmt ist; aber sie weicht nicht einen Millimeter ab von ihrer Linie. Bei so einer Frau kann auch unsereins sich immer wieder Mut holen. Ihr drüben habt es gut. Ihr seid im Aufbau, Ihr Jungs, Ihr kennt zu Eurem Glück gar nichts anderes, keine Wirtschaftskrisen, keine Arbeitslosigkeit, keine Aussperrung. Gerade darum sollt Ihr erfahren, wie es andern Jungens hier im Westen geht. (…)

Auszug des Briefes:

„Und die Menschen verändern sich“

Briefe an Markus Wolf 1934 – 2006